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Erntedank

Gestern war Erntedank. Ich vermute, dass das ungefähr 60% aller Menschen in Deutschland nicht gewusst oder zumindest verinnerlicht haben. Ich will auch gar nicht darauf hinaus, dass es ein christliches Fest ist – obwohl mir das schon am Herzen liegt, aber darum geht es mir nicht primär.

Wenn man das Wort Erntedank seziert oder Kinder in der Grundschule hat und Wörter aus lerntechnischen Gründen auseinander nehmen muss, dann kommt man schnell drauf, dass dieses spezielle zusammengesetzte Wort gut auch getrennt betrachtet werden kann:

Da wäre die Ernte – nun, Äpfel, Quitten, Pfirsiche, Wein und allem was mehr oder minder hoch wächst, hat gutes Jahr hinter sich gebracht. Ich konnte mich vor Äpfeln von unserem einzigen Baum nicht retten dieses Jahr (hier eine kurze Frage an die Apfelsafthersteller, die vor zwei Jahren wegen der schlechten Ernte damals die Preise hochgefahren haben: Wird es dieses Jahr günstiger?) und auf den diesen Wein-Jahrgang freue ich mich schon sehr.

Aber so profane Sachen wie Getreide und Gemüse sind schlicht auf den Feldern vertrocknet. Das ist für die Bauern sehr ärgerlich und kann Existenzen bedrohen, ja, das ist dumm, aber mit dem normalen Menschen, der sein Brot im besten Fall beim Bäcker, im schlechtesten Fall beim Discounter kauft ist das egal. Muss man jetzt nicht weiter drüber reden. Weil wir ja in der zivilisierten Welt leben. Im Hier und Jetzt.

Vor einigen Jahrzehnten sah das noch ganz anders aus im Hier. Da wären eine Menge von uns Städtern oder Semistädtern elendiglich nach einem Dürrejahr verhungert oder zumindest wären wir sehr häufig mit knurrendem Magen ins Bett gegangen. Schlechte Ernten bedeuteten immer auch den Tod oder die Krankheit von vielen Menschen. Wir nehmen es als gegeben hin, dass dies hier in unseren Breitengraden heute nicht mehr der Fall ist – aber das ist es nicht. Nicht hungrig zu sein, ist nicht der Normalfall, da können wir noch so sehr tun als ob.

Anstatt aber dankbar zu sein (zweiter Teil des Wortes übrigens, ich setze der Dramaturgie halber jetzt auf Wortfamilien), regen wir uns darüber auf, dass der Salat dieses Jahr irgendwie ein wenig teurer ist, es schon wieder Apfelkuchen gibt und Pfirsiche können wir auch alle nicht mehr sehen. Noch mal, ich will jetzt gar nicht darauf hinaus, dass jetzt jeder am ersten Sonntag im Oktober in die Kirche rennen soll – man kann in diesem Fall auch gerne dankbar gegenüber den Menschen sein, die Bewässungsanlagen, ausgefeilte Transportlogistik aus aller Herren Länder und Lagermethoden erfunden haben – wobei man sich gerne streiten kann, wie sie an diese Gaben gekommen sind, aber das ist wie gesagt nicht mein Punkt.

Mein Punkt ist, dass wir aufhören sollten, Dinge als gegeben anzunehmen. Wir wollen als die aufgeklärten Menschen gesehen werden, die alles hinterfragen – das ist gut so. Gleichzeitig nehmen wir den Luxus jeden Tag satt zu werden, egal wie schlecht die Ernte war aber als gegeben hin und verschwenden nicht einen Gedanken daran, wie es auch in diesem Land war und wie es sein könnte. Wir sehen es als unser Grundrecht an, dass uns zusteht. Dem ist aber nicht so.

Wir haben allen Grund dankbar zu sein und es ist keine Schande, diese Dankbarkeit auch zu zeigen anstatt miesepetrig durch die Weltgeschichte zu rennen laufen und zu lamentieren, was wir alles nicht haben. Wem das schwer fällt, dem empfehle ich Literatur über den deutschen Hungerwinter 1946/47 sowie den darauf folgenden Dürresommer 1947 – keine 100 Jahre her und sehr eindrucksvoll.

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